Zeitzeugen
Bertolt Brecht in der Schweiz
Wäre alles seinen gewohnten Gang gegangen, sie hätten sich kaum je kennen gelernt. Sie wären sich nicht begegnet, die Schweiz und der Augsburger Eugen Bertold Friedrich Brecht. Der Bürgersohn mit Geburtsschein Nummer 351 der Pfarrei Barfüsser, ausgestellt am 11. Februar 1898, wäre nicht Stückeschreiber und Schriftsteller geworden. Und ohne politischen Druck hätte sich in jenem Land mit seinen fleissigen und gewissenhaften Einwohnern, das mit seinen mehreren Sprachen und Kulturen geographisch im Zentrum Europas liegt, kein Herr Meier IV, „Det. des Kriminal-Kommissariates“ der Stadtpolizei Zürich, mit „diesen Ausländern“ zu beschäftigen gehabt.
Die Umstände der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg und die grossen Konflikte des zwanzigsten Jahrhunderts haben sie zueinander geführt. Von einem bestimmten Zeitpunkt an, dem Schicksalsjahr 1933, konnten sie sich nicht mehr aus dem Weg gehen. Nun lernten sie sich näher kennen und lernten sich schätzen – ihre Skepsis blieb. Und die gegenseitige Faszination. Sie hatten sich nolens volens miteinander auseinander zu setzen. Und sie taten es, beide Seiten, bis an die Schmerzgrenze. Und darüber hinaus: Sie ignorierten sich, sie hassten sich, sie denunzierten sich. Es gab Verbote, Steckbriefe und Liebeserklärungen. Es wurde eine Beziehung reich an Widersprüchen, Skandalen und Erfolgen. Sie brauchten sich, missbrauchten einander – sie lernten sich im Schlimmen wie Guten kennen. Sie forderten sich heraus. Überblickt man diese Beziehung, könnte das vorläufige Fazit lauten: Sie wurden sich wichtig und blieben sich fremd. Bertolt Brecht und die Schweiz waren, wie es Max Frisch einmal auf Emigranten im Allgemeinen bezogen formulierte, miteinander in eine Symbiose geraten, die von beiden Seiten nicht vorgesehen war.
Zum ersten Mal kam Brecht als junger Medizinstudent und Stückeschreiber anlässlich eines Gastspiels der Münchner Kammerspiele 1923 kurz nach Basel. Es war seine erste Auslandreise. 1933 wurden Zürich, Lugano und Carona flüchtige Stationen der Emigration. Nach zwei längeren Aufenthalten 1947 bis 1949 in Zürich machte Brecht im Februar 1956 noch einmal in Basel Zwischenhalt. Müde und erschöpft reiste er zur Premiere von Giorgio Strehlers Dreigroschenoper nach Milano und hätte auf der Rückreise sehr gerne, wie im Jahr 1949, die Basler Fasnacht besucht. Sie war und blieb für Brecht eines seiner nachhaltigsten gesellschaftlichen Erlebnisse, nämlich eine während dreier Tage verwirklichte Utopie. Ein Wechsel von Unten und Oben. Es wurde seine letzte Auslandreise.
Text aus der Einleitung „Bertolt Brecht und die Schweiz“, Seite 13.